Samstag, 18. April 2020

»Es färbte sich die Wiese grün« von Novalis

Es färbte sich die Wiese grün Und um die Hecken sah ich blühn, Tagtäglich sah ich neue Kräuter, Mild war die Luft, der Himmel heiter. Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. Und immer dunkler ward der Wald Auch bunter Sänger Aufenthalt, Es drang mir bald auf allen Wegen Ihr Klang in süßen Duft entgegen. Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. Es quoll und trieb nun überall Mit Leben, Farben, Duft und Schall, Sie schienen gern sich zu vereinen, Daß alles möchte lieblich scheinen. Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. So dacht ich: ist ein Geist erwacht, Der alles so lebendig macht Und der mit tausend schönen Waren Und Blüten sich will offenbaren? Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. Vielleicht beginnt ein neues Reich – Der lockre Staub wird zum Gesträuch Der Baum nimmt tierische Gebärden Das Tier soll gar zum Menschen werden. Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. Wie ich so stand und bei mir sann, Ein mächtger Trieb in mir begann. Ein freundlich Mädchen kam gegangen Und nahm mir jeden Sinn gefangen. Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. Sie ging vorbei, ich grüßte sie, Sie dankte, das vergeß ich nie – Ich mußte ihre Hand erfassen Und Sie schien gern sie mir zu lassen. Ich wußte nicht, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah. Uns barg der Wald vor Sonnenschein Das ist der Frühling fiel mir ein. Kurzum, ich sah, daß jetzt auf Erden Die Menschen sollten Götter werden. Nun wußt ich wohl, wie mir geschah, Und wie das wurde, was ich sah.
»Es färbte sich die Wiese grün« von Novalis