Samstag, 15. Januar 2022

»Die Christenheit oder Europa« von Novalis

»Die Christenheit oder Europa« von Novalis

Novalis‘ Text, zu seiner Zeit für eine Veröffentlichung in der Zeitschrift »Athenäum« vorgesehen, wurde vom Jenaer Romantikertreffen im November 1799 als zu „schwach und ungenügend“ empfunden und somit erst im Jahre 1826 auf Veranlassung von Georg Reimer posthum veröffentlicht und gedruckt.

Zu Beginn des Textes präsentiert Novalis der Frühromantik entsprechend das Mittelalter als einen Idealzustand, in welchem die Menschen von den Geistlichen gleich „erfahrnen Steuerleute[n]“[5] geleitet, beschützt und beraten werden. Der Papst tritt als Friedensvermittler zwischen den Völkern auf und „mit Recht“ widersetzt sich die Kirche den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, da abzusehen ist, dass die Bevölkerung „das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorziehn würde und sich gewöhnen würde alles Große und Wunderwürdige zu verachten“ .

Novalis ist dem Fortschritt und den Wissenschaften keineswegs abgeneigt, gerade „das gewaltige Emporstreben aller andern menschlichen Kräfte“ empfindet er im Schoße der Kirche als bereichernd, jedoch „war die Menschheit für dieses herrliche Reich [noch] nicht reif, nicht gebildet genug“ (N, S.24). Novalis kritisiert hier also keineswegs die Herausbildung der Vernunft alleine, sondern bemängelt die daraus resultierende Abwendung von Glaube und Kirche. Denn zu dieser kommt es letztlich und die Menschen Europas werden in den Augen Novalis aus diesem Ideal-Zustand des Mittelalters und der harmonischen Entwicklung der „Wissenschaften des Lebens und der Künste“ herausgerissen: „So fällt die schöne Blüte seiner Jugend, Glauben und Liebe ab, und macht den derbern Früchten, Wissen und Haben Platz.“

In der Folge bleiben auch die Vertreter des Glaubens nicht von dieser Entwicklung verschont: „Sie (die Geistlichkeit) war stehen geblieben im Gefühl ihres Ansehens und ihrer Bequemlichkeit, während die Laien […] mächtige Schritte auf dem Wege der Bildung vorausgetan hatten. In der Vergessenheit ihres eigentlichen Amts […] waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewachsen.“ Die rationale Erkenntnis und der Drang nach materiellem Reichtum treten in den Vordergrund.

So ist auch die Reformation durch Luther eine legitime Revolution gegen die herrschenden Zustände in der Kirche, jedoch muss Novalis feststellen, dass dadurch kein besserer Zustand erreicht, sondern vielmehr die Kirche und deren Einheit zerschlagen wird, denn „sie (die Protestanten) trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war.“ (N, S. 27f.)

Die weltlichen Fürsten schlagen in der Folgezeit Kapital aus der zerschlagenen Einheit, indem sie „diese Streitigkeiten zur Befestigung und Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkünfte“ (N, S. 28) nutzen. Die Religion wird „irreligiöser Weise in Staats-Grenzen eingeschlossen“ (N, S. 28) und verliert damit „ihren großen politischen friedestiftenden Einfluss, ihre eigentümliche Rolle des vereinigenden individualisierenden Prinzips“ (N, S. 28). Hierbei ist auch erwähnenswert, dass zur Zeit der Entstehung des Textes der Papst von den französischen Truppen in Italien abgesetzt und verschleppt worden war und somit zu jener Zeit das Oberhaupt der katholischen Christenheit fehlte: „Das Papsttum liegt im Grabe (N, S. 47) […] Die neure Politik entstand erst in diesem Zeitpunkt, und einzelne mächtige Staaten suchten den vakanten Universalstuhl, in einen Thron verwandelt, in Besitz zu nehmen.“ (N, S. 30)

Zu den weltlichen Einflüssen, die der Spaltung der Kirche geschuldet sind, zählt auch die Aufklärung mit dem aufkommenden Gefühl der Mündigkeit hinzu, was zu weiterer Abkehr von Phantasie und Gefühl und einen Hass gegen die Religion führt: „Der anfängliche Personalhaß ging allmählich in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr – der Religions-Haß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf die Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, […] setzte den Menschen mit Not oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller […] sei.“ (N, S. 34)

Dieser haltlose Zustand stellt für Novalis aber nur einen nötigen Zwischenschritt zur Wiederauferstehung der Religion dar, denn „wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“ (N, S. 37) So kann er die Revolutionäre und „Staatsumwälzer“ auch nur belächeln, die von der Meinung beseelt sind, man könne einen Staat umwälzen und diesen dauerhaft etablieren, wenn man die „Tendenz nach der Erde behält“ (N, S. 38).

Daraufhin wendet sich Novalis einem Blick in die Zukunft zu, in der die Religion wieder auferstehen wird. „Eine neue goldne Zeit mit dunkeln unendlichen Augen, eine prophetische wundertätige und wundenheilende, tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit“ (N, S. 41) wird kommen und die Menschen erneut vereinen und in Frieden zusammenführen. Denn nach Meinung Novalis‘ „ist [es] unmöglich, daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. […] Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installieren.“ (N, S. 45f.)

Seine Schlussforderung ist dann auch die folgende: „Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen bilden, die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird. […] Aus dem heiligen Schoße eines ehrwürdigen europäischen Konsiliums wird die Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religionserweckung nach einem allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden.“ (N, S. 48)

Novalis-Biografie:

Novalis Leben und Werk
Novalis: Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs von Gerhard Schulz


„Ach! Wär ich nie in eure Schulen gegangen. […] Ich bin so recht vernünftig geworden, […] bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne“. Ähnlich wie Hölderlin kritisiert auch Novalis in seinem Fragment »Christenheit oder Europa« (1799) die kalte Vernunft der Aufklärung, durch welche die Phantasie und der Glaube verdrängt wurden. Er erinnert sich an „schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war“[2] und hofft in seiner Darstellung der Geschichte Europas auf eine Wiederauferstehung des Christentums und der Wiederherstellung ähnlich goldener Zeiten.

Entscheidend für Novalis ist hierbei, dass sich Vernunft und Glaube, Irdisches und Metaphysisches ins Gleichgewicht setzen müssen. Und genau darauf soll dieser Essay aufbauen. Europa braucht zusätzlich zu der Rationalität als ein ihm durchaus charakteristisches Merkmal ein Element, welches eben jener seine Grenzen aufweist und ein Gegengewicht darstellt. Die goldene Mitte[3] wurde zusehends aus dem Blick verloren und ein wichtiger Schritt in diese Richtung könnte in einer Rückbesinnung Europas auf seine kulturellen, religiösen und geschichtlichen Wurzeln gefunden werden.

Gerade an den heutigen Diskussionen über Europa und seiner Identität, über das Christentum in einem säkularisierten Zeitalter oder darüber, inwiefern das Christentum einen Platz in der europäischen Verfassung einnehmen sollte, wird deutlich, wie präsent das von Novalis abgehandelte Thema nach wie vor noch bzw. wieder ist.


Novalis’ 1826 posthum unter dem Titel »Die Christenheit oder Europa« veröffentlichte Rede stellt inhaltlich knapp zusammengefasst den Entwurf einer idealen Zeit dar, in der weltliche Kräfte in einer friedlichen Zeit unter einem Oberhaupt (Papst) sinnvoll geordnet sind. Nach einer Zeit des Niedergangs und Verfalls wird eine in der Zukunft angesiedelte Verjüngung der Geschichte und eine Wiedervereinigung Europas unter dem Schutz des Christentums verkündet.