Montag, 1. November 2021

»Hymnen an die Nacht« von Novalis - Zweite Strophe


Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen? Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. - Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf - beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in diesem irdischen Tagewerk. Nur die Thoren verkennen dich und wissen von keinem Schlafe, als den Schatten, den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst. Sie fühlen dich nicht in der goldnen Flut der Trauben - in des Mandelbaums Wunderöl, und dem braunen Safte des Mohns. Sie wissen nicht, daß du es bist der des zarten Mädchens Busen umschwebt und zum Himmel den Schoß macht - ahnden nicht, daß aus alten Geschichten du himmelöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender Bote.

 

Die »Hymnen an die Nacht« sind ein Zyklus von sechs eng untereinander verbundenen Poemen, gekleidet in eine eigentümliche Mischung Prosagedicht und Vers.

In vielerlei Hinsicht sind die »Hymnen an die Nacht« ein Gedicht ihrer Zeit.

Ihr Thema ist die Überwindung des Todes im Bewußtsein, denn an der physischen Tatsache des Lebensendes führt kein Weg vorbei.

So lassen sich die »Hymnen« eine religiöse Dichtung nennen, aber der Begriff ist zu allgemein, um diese Dichtung damit hinreichend und trefflich zu beschreiben.

»Hymnen an die Nacht« von Novalis, Zweite Strophe



Video:

Hymnen an die Nacht - Youtube